Letzte Sonette von Rainer Maria Gassen†

Rainer Maria Gassen – FASZIKEL

Metastasen

So schöne Punkte, murmelt er in sich
hinein, und viele; einer schöner als
der andere; durch das Kontrastmittel
steht jeder abgehoben da vor schlichtem

Hintergrund; als sollts ein Kunstwerk werden,
Öl auf Holz; als wären sie von sichrer
Hand an ihre Positionen kräftig
hingetupft, einander Licht und Schatten zu

gewähren; doch just dort, wo sie sich viel
zu üppig tummeln, nehmen sie sich dreist,
was ihnen nicht gehört, bedienen sich am

Gleichgewicht der schnöden Ordnung, die sich
unbemerkt dem Chaos seine alten
Rechte wieder einzusetzen trachtet.

23./24.03.‘25

Der Worte sind genug gewechselt,
lasst mich auch endlich Taten sehn!

Ich muss allein entscheiden, ob ich Sand
oder ein Schmierstoff im Getriebe sein will,
da mich niemand je gefragt hat, ob
er’s wagen dürfte, es in Gang zu setzen;

nicht bloß hingenommen funktionierte
es bis neulich ganz erstaunlich, ohne
Aufhebens von sich zu machen gut,
um nicht zu sagen, sogar völlig störungsfrei,

jetzt aber ist das Quietschen lange schon
nicht mehr zu überhören; das System
wird sich bald automatisch abschalten; wem

wollte ich, wenn nicht mir selbst, noch etwas
vorgaukeln; es gilt nur noch die Mahnung
jenes Herrn Theaterdirektors.

30.3.25

Im Wartestand

Das eine war es, hinzuleben und
geduldig hinzuwarten auf den Tag,
wenn wieder einmal alle kamen, ihm
die Wünsche von den Augen abzulesen;

anders warn die Stunden dumpf durchlitten,
wenn sie kaum vergehen wollten, bis den
Eltern endlich auffiel, dass er sich schon
wieder mal nicht hatte bremsen können, sich

mit den nur ihnen vorenthaltenen
Vergnügungen am Regennachmittag
die Langeweile zu vertreiben; wusst er

aber, was ihn da erwartete; heut
gäb er, was es sei, könnt er erahnen,
was ihm alles noch bevorstehn möchte.

Totes Rennen

Dass er sich je verloren ginge, konnt
er sich nicht vorstellen, doch wie er sich
auch sputet, immer mehr gerät er schon
ins Hintertreffen; sieht sein Alterego

ihm enteilen; was wird der in seinem
Namen seelenruhig riskieren, doch die
Zeche nicht begleichen müssen; wird sie
doch gemeinsamen Adressen zugestellt;

einander werden sie sich gönnen, wer
am Ende seinen Willen haben soll;
läuft beiden doch die Zeit davon, sich auf das

jeweils eigne Ziel zu kaprizieren;
die courante Währung honoriert der
eine wie der andere nur allzu gern.    

Einvernehmlich

Hub an der Chefarzt, er möcht endlich auch
ein Wörtchen beitragen zu unserem
Gespräch; der Tumor habe sich bereits
zehn Kilo von mir fürstlich munden lassen,

sei jedoch noch lange nicht halbwegs mit
seinem Mahl am Ende; ganz besonders
hab es ihm die Leber angetan; die
werd er sich zum Nachtisch aufbewahrn; und als

ich ihn dreist fragte, ob ich rauchen dürft,
verdüsterte sich seine Miene für
die sprichwörtliche Schrecksekunde, bis ein

freches Lächeln über seine Lippen
huschte: nein, in diesem Leben, sagte
er, könnt ich nun wirklich nichts mehr falsch machen.

2025

Per Mail vom 28.5.25
Auf der Bank in der Raucherecke vor der Janker-Klinik liest RMG beim Drehen einer Zigarette die Warnung auf dem Tabakpäckchen „Rauchen ist tödlich“ und sagt in aller Ruhe: „Das kann ich bestätigen.“

Inventur

Ich muss die Zeit vorbeiziehn lassen an
mir, ohne dass ich sie genutzt hätte;
sie ist jetzt bestenfalls nur noch ein Rest,
mit dem ich nicht mehr wüsste, was mit ihm noch

anzufangen wäre; nicht genug, ihm
einen kurzen Zyklus von Gedichten
abzunötigen, und doch zuviel, als
dass nicht wiederum ein neuer Rest davon

noch übrig bliebe; schäbig also ist
es nicht, dies Überbleibsel; in der Hand
des Stärkeren wär ihm vielleicht sogar noch

Großes abzutrotzen; meine Kräfte
aber reichen nur noch, hier zu sitzen
und die langen Stunden einfach zu vertun.

08-10/06/‘25

Überwinder und Unterlegener

Wie er hier eingerichtet ist, kann’s nicht
mehr lange bleiben; diese Einerseits
und Andrerseits bedrängen ihn, sein Hin
und Her nun nicht mehr länger zu erdulden;

fast schon vollgelaufen ist sein Schiffchen,
liegt längst viel zu tief in sanfter Dünung,
rollt die nächste Welle über ihre
Seite, wird’s geschehen sein; die Tiefe wird

es endgültig zerquetschen; er wird es
mit Gleichmut hingenommen haben, wird
die Kraft zur Gegenwehr nicht mehr als letztes

Aufbäumen gesammelt haben; wird sich
weiter nicht zur Wehr gesetzt haben, weil
Wille und Geduld längst nicht mehr reichten.

26/06/‘25

[Der blaue Fisch
Herrn Dr. med. Nils Heiland dankbar zugeeignet

Er dankt verbindlich einem blauen Fisch,
den er sich jeweils abends wie auch in
den Morgenstunden auf die Zunge legt,
zerfällt dort, ist alsbald nur noch ein bittres

Pulver, das die Mundschleimhäute hurtig
kribbeln lässt; hier front ein Wirkstoff über
Tag und Nächte, unterdrückt den Brechreiz
zuverlässig, bis er schließlich vollends zum

Erliegen kommt; so mag sich wünschen der
Patient, dass Beipackzettel – formuliert
für eben jenen Leidgeplagten – aus der

Packung fielen; will der wirklich wissen,
welche Risiken er eingeht, wenn er
tagelang mit Brechreiz kämpfen musste?

29/06/‘25]

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